
Jürgen Müller-Blech
In den Fußstapfen eines Erfinders
Glasbläserfamilie mit großer Tradition
Jürgen Müller-Blech ist Familienmitglied einer, über viele Generationen bestehenden Glasbläserfamilie mit großer Tradition und faszinierender Geschichte. Von Kindesbeinen an begleitet ihn das wundervolle Material bis heute. Das Herz des 73-jährigen schlägt nicht nur für den Beruf des Glasbläsers, sondern auch für die Geschichte und die lange Glastradition seines Ortes.
Portrait (VDGN 2/2021)
Der Erfinder des ersten deutschen, künstlichen Menschenauges
Mein Ur-Urgroßvater ist der Erfinder des ersten deutschen, künstlichen Menschenauges aus Glas: Ludwig Müller-Uri, der aus Lauscha stammende Pionier der Augenprothetik. 1835 wurde das erste von ihm gefertigte Glasauge einem Patienten eingesetz.



Seit meiner Kindheit bin ich mit dem Glas verbunden. In meinem Elternhaus befand sich die Glasbläserei meines Urgroßvaters Louis Ernst Müller-Blech. Er stellte hauptsächlich Christbaumschmuck her und arbeitete für ein paar Jahre in der Glühlampenfabrik der Firma Edison und Swan in Newcastle upon Tyne. Nach seinem Sohn Gustav, also meinem Großvater, ist unser Familienbetrieb benannt: G. Gustav Müller-Blech Junior.
Mein Großvater lernte den Beruf des Glasbläsers bei seinem Vater. Von Lauscha aus verschlug es ihn bis nach Berlin, London, Rotterdam und Paris, wo er unter anderem Glühlampenkörper für den Eiffelturm herstellte.





Schließlich kehrte er nach Lauscha zurück und übernahm die Werkstatt seines Vaters. Als Kind stand ich oft neben ihm am Blasebalg und beobachtete, wie er das Glas mit meisterlicher Hand bearbeitete. In Lauscha heißt heute noch der Glasbläserarbeitstisch -Blasebalg, im Lauschaer Dialekt „Bolg“. Später durfte ich kleinere Arbeiten ausführen, etwa eine Weihnachtskugel blasen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg produzierte der Betrieb meines Großvaters vor allem Dekorationsartikel, eine Spezialität waren Glastulpen, deren Blüten in Form geblasen und mit einem hohlen grünen Stiel versehen wurden. Aus Glasfasern wuchsen gerade oder gebogene Blätter. Die stilisierten Glasfaserblätter wurden vorgefertigt und von einem Glasfaserbetrieb gekauft. Unsere Kunstblumen, die es auch als ganze Sträuße gab, waren über Jahre ein Renner. Wir lieferten sie in viele europäische Länder – und sogar bis nach Indien.

Der Betrieb meines Großvaters wurde 1948 Mitglied der Handwerksgenossenschaft Lauscha, deren Mitglieder sich den Einkauf von Material und den Vertrieb ihrer Produkte teilten. Als die DDR-Regierung von den Genossenschaftern verlangte, eine Produktionsgenossenschaft des Handwerks – kurz PGH – zu gründen, weigerten sich viele. Etwa siebzig Glasbläser ließen sich jedoch überzeugen und schlossen sich 1959 – im Jahre des zehnten Gründungsjubiläums der DDR – zur PGH zusammen.
Um die zweihundert Glasbläser, darunter mein Großvater, hielten der Einkaufs- und Liefergenossenschaft weiter die Treue. Auf staatlichen Druck hin musste sie sich jedoch auflösen und sich 1966 mit ihren Werkstätten in die neu gegründete PGH Glaskunst eingliedern. Ihr Hauptgeschäft war künstlerisch gestaltetes Hohlglas: Christbaumschmuck, Vasen, Gefäße, Trinkgläser. Auch Figuren aus massivem Glas. Daneben Glasfasern, die die Porzellanindustrie für das Polieren von Goldrändern benötigte.
Glasfasern wurden selten und waren so begehrt
Es gab nur noch wenige Betriebe, die solche Fasern herstellten, so entstand ein Engpass, der zeitweise derart dramatisch war, dass keine Goldränder poliert werden konnten. Um dem entgegenzuwirken, wurde sogar Rudi Fölsche, ein Mitarbeiter des Röhrenwerks in Neuhaus, freigestellt, um seinen längst aufgegebenen Familienbetrieb wiederzubeleben. Fortan stellte er in Heimarbeit Glasfasern her.

Mein Berufsweg war vorgezeichnet:
Wie mein Großvater und mein Vater sollte auch ich Glasbläser werden. Mein Vater war ehrenamtlich Obermeister und für die Kunstglasbläser zuständig. Obermeister wurden von den Handwerkskammern in allen Branchen bestellt. Sie waren die Vorsitzenden der Prüfungskommissionen für Facharbeiter und Meister.
Immer wieder wurde die Berufsschule zu klein
Ich hätte die Berufsfachschule in Lauscha besuchen können, doch die Ausbildung dort war nur noch für Christbaumschmuckbläser ausgelegt. Sie orientierte sich am Christbaumschmuck, da dieser gegen Devisen auch in den Westen und in die Sowjetunion exportiert wurde und die Nachfrage dementsprechend groß war. Freies künstlerisches Gestalten und andere wichtige Themen, wie zum Beispiel die Gestaltung von Gefäßen (Vasen, Schalen, Trinkgläser), Herstellung von Tieren und Plastiken aus Hohl- und Massivglas sowie die Herstellung von Menschen- und Tieraugen kamen zu kurz. Das stellte sich schnell als Problem heraus. Denn durch die einseitig auf Weihnachtsbaumschmuck ausgerichtete Ausbildung waren nicht genügend Fachkräfte vorhanden, als mehr und mehr künstlerisch gestaltete Glasprodukte gefragt waren. Die PGH entschied, eine eigene Lehrwerkstatt aufzubauen, deren Anfänge bescheiden waren: Ein Lehrmeister weihte ein oder zwei Lehrlinge in die Geheimnisse des Handwerks ein. Später kamen weitere Ausbilder und Lehrlinge hinzu. Als die Kapazitäten nicht mehr ausreichten, baute der VEB Glaskunst Lauscha in Ernstthal zusätzlich eine zentrale Werkstatt, in der bis zu zwölf Lehrlinge ausgebildet werden konnten. Die Lehrwerkstatt der Christbaumschmuckbetriebe war eigenständig und blieb weiterhin bestehen.
Ich entschied mich gegen die Schule in Lauscha und für eine Lehre als Glasapparatebläser an der Betriebsberufsschule Technisches Glas in Ilmenau. Dort bildete man nicht nur Glasapparatebläser, wenn gewünscht mit einem weiterführenden Abitur aus, sondern auch Thermometerbläser, Glasschleifer und Werkzeugmacher- speziell für die Glasindustrie.
Kaum hatte ich dort die Berufsausbildung mit Abitur beendet, musste ich eine Zwangspause einlegen: Ich wurde zur Nationalen Volksarmee eingezogen.
Nach anderthalb Jahren Wehrdienst ging ich zurück in meinen alten Betrieb, der PGH Glaskunst Lauscha und arbeitete in der Heimwerkstätte meines Vaters, in der ich zunächst Dekorationsartikel (großvolumige Kugeln, Oliven, u.ä.), später unter anderem Trinkgläser, Schmuckgläser, Vasen, Schalen, Scherzgläser und Dekorationsartikel mit Metalloxidauflagen fertigte.
1972 wurde aus der PGH Glaskunst ein volkseigener Betrieb. Die Glasbläser arbeiteten weiter in ihren eigenen Werkstätten. Unser Familienbetrieb hatte in den Jahren vor der PGH-Zeit bis zu sieben Glasbläser beschäftigt, zusätzlich einige Frauen, die Ware einpackten oder Glas versilberten. Später arbeiteten dort nur noch meine Großeltern und meine Eltern. Schließlich bildeten meine Eltern und ich die kleine »Belegschaft«, die weiter Dekorationsartikel herstellte, zum Beispiel Glaskugeln, die Geschäftsräume oder Schaufenster zierten. Als Anfang der Siebzigerjahre der Preis für das Silber, das zum Verspiegeln solcher Kugeln benötigt wurde, sehr stark anstieg, lohnte sich das Geschäft nicht mehr. Wir schwenkten um, lieferten fortan hauptsächlich Trinkgefäße – etwa Cognacschwenker, Wein- und Sektgläser




Kleiner Ausschnitt aus der Produktpalette und Auszeichnung





Der Weg zur eigenen Werkstatt und Vorführungen in ganz Europa
Nach meiner Heirat wurde es zu Hause zu eng, meine Frau und ich bauten uns ein eigenes Haus, in dem meine eigene Werkstatt ihren Platz fand. 1979 stand der dreißigste Jahrestag der Gründung der DDR an. Die Liga für Völkerfreundschaft, in der verschiedene Organisationen zusammengefasst waren, die sich um die Beziehungen zu anderen Ländern kümmerten, organisierte opulente Ausstellungen im Ausland.
In Lissabon, Rom und Paris präsentierte sich die DDR mit Beiträgen aus Kultur, Sport, Wissenschaft und Wirtschaft – ich stellte dort als einziger Glasbläser mein Handwerk vor. Es war meine erste Reise in den Westen. Bis dahin hatten meine Auslandsreisen nach Ungarn oder Bulgarien geführt, im Kulturzentrum der DDR in Budapest etwa hatte ich vorgeführt, wie Glas geblasen wird.
1981 wuchs der VEB Glaskunst durch den Zusammenschluss mit weiteren Betrieben erheblich und wurde Teil des Kombinats Wohnkultur Suhl. Der neue VEB Glaskunst, der circa achthundert Beschäftigte hatte, darunter etwa vierhundert Glasbläser, baute eine zentrale Lehrwerkstatt in Neuhaus auf, weil die Kapazitäten in der alten Werkstatt längst nicht mehr ausreichten. Glasbläser waren rar, trotzdem gab es zu wenig Lehrstellen. Kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag, der 1989 anstand, präsentierte
sich die DDR mit Ausstellungen im Ausland, und ich stellte mein Handwerk in Athen vor. Am 7. Oktober 1989, kurz vor der penibel vorbereiteten Feier zum Jahrestag der DDR im Berliner Palast der Republik, war ich auf der Rückreise von Athen. Der Luftraum über Berlin war gesperrt, weil Staatsgäste aus den Bruderländern zur Feier per Flugzeug anreisten. Unsere Maschine landete mit sehr viel Verspätung. Am
Bahnhof herrschte Chaos. Ich bekam grad noch eine Fahrkarte bis nach Halle, von wo ich mir mit
einer Porzellanarbeiterin ein Taxi nach Lauscha teilte. Wenig später überstürzten sich die Ereignisse. Die Grenze ins nahe Bayern wurde geöffnet. Für unser Handwerk ergaben sich plötzlich ganz neue Perspektiven.





Die Gunst der Stunde
Im Frühjahr 1990, noch vor Einführung der D-Mark, stiegen die ehemaligen Mitglieder der 1972 aufgelösten PGH aus dem volkseigenen Betrieb aus. 190 Glasbläser – zu denen auch ich gehörte – nutzten die Gunst der Stunde und gingen wieder eigene Wege. Wie so oft kam auch in diesem Fall die Bürokratie ins Spiel: Wir mussten die alte PGH wieder ins Leben rufen, um sie schon am Tag darauf aufzulösen und eine GmbH zu gründen. Für einen fünfstelligen Betrag kauften wir die Firma, die bis zu ihrer Auflösung der Genossenschaft gehört hatte, zurück. Den Rest des abzuwickelnden VEB übernahm die Treuhand.
Die Heimwerkstätten unserer Glaskunst Lauscha GmbH stellten weiter Kunstglas, Trinkgläser, Dekorationsartikel und Produkte aus Massivglas her.
Das Geschäft lief eine Zeit lang sehr gut. Doch zunehmend gaben unsere Kunden ihr Geld für andere Dinge aus, für Reisen etwa. Unser Absatz stagnierte, wir mussten das Unternehmen radikal verkleinern. Den Kollegen, die die GmbH verlassen mussten, zahlten wir ihre Anteile aus. Einige von ihnen machten sich selbständig. Die Firma schrumpfte auf dreißig Gesellschafter. Im Jahr 2002 wurde sie an die Farbglashütte Lauscha verkauft. Die Farbglashütte war bereits 1853 gegründet worden, von einem Nachfahren der Familie Hans Greiner, die im 16. Jahrhundert eine Waldglashütte – und damit Lauscha – gegründet hatten. Aus der Produktion von Gläsern und Glasperlen ging die Herstellung von Christbaumschmuck und Glasmurmeln hervor – und auch das von meinem Ur-Urgroßvater erfundene Glasauge geht darauf zurück. Die Farbglashütte ist heute die einzige und letzte, die das von Ludwig Müller-Uri mitentwickelte Kryolithglas herstellen – ein lichtdurchlässiges, aber nicht-durchsichtiges Material für Augenprothesen.
Die Freude daran Geschichte und Wissen weitergeben zu können
Einige Jahre bevor unsere GmbH verkauft wurde, erkrankte ich an Krebs und wurde zum Invaliden – ein harter Einschnitt, denn ich konnte von da an nicht mehr arbeiten. Ich gab mich freilich nicht geschlagen, bis heute erledige ich in meiner Werkstatt gelegentlich kleinere Aufträge. Über die Jahre sammelte ich ein umfangreiches Wissen über die Geschichte unseres Ortes, das ich in den Lauschaer Heimat- und Geschichtsverein einbringe, inzwischen als Vorsitzender. Zwanzig Hobbyhistoriker kümmern sich, außer um die Glastradition auch um den »Lauschner« Dialekt und um die Geschichte anderer Berufszweige, der Lauschaer Porzellanmaler etwa. Wir gestalten Ausstellungen und veröffentlichen Broschüren. Mir liegt es sehr am Herzen, die Geschichte unserer Stadt an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, schließlich hat meine Familie einen entscheidenden Anteil daran.
Zusammen mit zwei Vereinskollegen haben wir den original Lauschaer Christbaumschmuck ins Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes gebracht.
Mehr zu den Heimatheften finden sie unter:


Anhang zum Bericht
Die Redaktion wurde auf Herrn Jürgen Müller-Blech durch die Thüringer Wald Broschüre
-Handwerk erzählt- aufmerksam und freute sich sehr darüber.
„Thüringer Wald Handwerk erzählt – Zwischen Tradition und Zukunft“
Ein Erzählprojekt von Rohnstock Biografien,
gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für die fünf neuen Bundesländer.
In dieser Broschüre liegen die persönlichen Geschichten der Handwerker vor. Sie künden von ihren Werten, von Fleiß, Sorgfalt und der Liebe zu ihrem Material. Darin steckt auch die Zeitgeschichte der letzten sechzig Jahre. Nirgendwo anders erlebten die Verantwortlichen dies so intensiv, wie im Thüringer Wald. Nach der Wende, als es in den 2000er-Jahren kaum noch Arbeit gab, zogen junge Handwerker in die Welt, andere mussten sich neu orientieren. Um nicht nur die jüngeren Erfahrungen, sondern auch das jahrhundertealte Wissen der Handwerker festzuhalten, wurde das Projekt »Handwerk erzählt – Zwischen Tradition und Zukunft« initiiert. Alle Geschichten wurden in Erzählsalons gesammelt
Katrin Rohnstock
Entwicklerin und Leiterin
des Projekts »Handwerk erzählt – Zwischen Tradition und Zukunft«;
Gründerin und Inhaberin
von Rohnstock Biografien
Die Redaktion des VDG bedankt sich herzlich für die Zusammenarbeit.

